Michael Sell (15) aus Schwanham hat bei 1,16 Metern aufgehört zu wachsen - Bei Feuerwehrübungen blüht er auf
Von Martin Maier
Michael Sell hat es eilig. Gleich muss er ins Dorf, die Feuerwehr trifft sich. Kaum eine Übung findet ohne den 15-Jährigen aus Schwanham bei Aunkirchen statt, am liebsten arbeitet er mit dem Funkgerät. Das Besondere: Michael Sell leidet von Geburt an an Achondroplasie. Das heißt, er ist kleinwüchsig und nur 1,16 Meter groß.
Die Ärzte sprachen bei Michaels Geburt von einer Laune der Natur. Michael ist der einzige Kleinwüchsige in seiner Familie und Verwandtschaft. Als er zur Welt kam, waren seine Arme und Beine verkürzt. Wenn Michaels Mutter Renate in der Küche des Einfamilienhauses in Schwanham an einem großen Holztisch sitzt und von ihrem Sohn erzählt, wirkt sie nicht verbittert. Mehrmals fällt bei ihr das Wort „bewundern". Mit Michael zu leben sei ein Gewinn, sagt sein Papa Karl-Heinz Sell. Mich, so nennt ihn sein Vater, lebe vor, wie es geht, aus einem Handicap das Beste zu machen. Renate Sell deutet auf die Zimmertür. Dort standen sie und ihr Mann Karl-Heinz oft und maßen ihren Sprössling, freuten sich über jeden neuen Zentimeter. Doch größer als er jetzt ist, wird Michael nicht mehr werden.
Gewerbepark Aunkirchen, vergangenes Wochenende. Feuerwehr-Jugendgruppen aus dem Stadtgebiet testen ihr Können bei einem simulierten Hallenbrand. Löschfahrzeuge fahren vor, die Einsatzkräfte packen ihre Geräte aus. Michael und ein Feuerwehrkollege stecken Schläuche zusammen, spritzen. Alleine könnte er den schweren Schlauch nicht halten. Unmöglich ist es für ihn außerdem, große Geräte wie eine Löschwasserpumpe zu tragen. Doch es hat auch Vorteile, ganz klein zu sein. Niemand rollt Schläuche so schnell auf wie Michael. Bei einem Jugendwettkampf neulich galt es, das unter Beweis zu stellen und Schlauchpakete unter Bänke durchzuschieben. Der kleine, wendige Bub gehörte zu den Besten.
Michaels Onkel, Reinhard Kremhöller, ist Kommandant der Schwanhamer Wehr und hat seinem Neffen geholfen, im Verein Fuß zu fassen. Als Michael vor drei Jahren zur Jugendgruppe kam, wurde er - wie immer, wenn er wo neu ist - von den Mitgliedern genau und kritisch gemustert. Doch es dauerte nicht lange und Michael gehörte dazu, fand neue Freunde. Er schlage sich gut, berichtet Kommandant Kremhöller. Alle halfen zusammen, um Michaels Wunsch, Feuerwehrmann zu werden, zu erfüllen. Michaels Tante, eine Näherin, kürzte Ärmel und Beine des Feuerwehranzuges. Sein älterer Bruder Joachim, ebenfalls Feuerwehrmann, schaute genau, ob Michael Hilfe braucht.
Gut 100 000 Menschen in Deutschland sind von Kleinwuchs betroffen. Das heißt, sie sind oder werden als Erwachsene zwischen 70 und 150 Zentimeter groß. Im Mai besuchten die Sells ein jährlich stattfindendes Kleinwuchsforum im hessischen Hohenroda mit 250 Betroffenen. Bei lauter Kleinwüchsigen fielen plötzlich die Normalgewachsenen aus der Reihe, die sich am selben, abgesenkten Buffet wie die Kleinen mit Essen bedienen mussten.
Michaels Alltag ist nicht immer einfach. Wenn er in Geschäften an höher gelagerte Waren kommen möchte, braucht er Hilfe. Kleidung, die dem Geschmack des 15-Jährigen entspricht, gibt es kaum. Bei Massenaufläufen wird er manchmal zur Seite geschoben.
Wenn Blicke töten könnten, wäre Michael wohl schon gestorben: In der Schule, bei Spaziergängen oder beim Einkaufen - der Kleinwüchsige wird von den Umgebenden beäugt, ist eine Attraktion. Michael und seine Eltern haben aufgehört, sich daran zu stören. „Du brauchst dich nicht schämen, du bist wertvoll und hast viele Stärken", sagt seine Mutter Renate Sell dann manchmal zu Michael.
Michael und seine Mitmenschen haben den alltäglichen Barrieren den Kampf angesagt. Im Bad haben seine Eltern ein höhenverstellbares Waschbecken installiert. Als Michael ein Kind war, hatten Renate und Karl-Heinz Sell Seile an den Türklingen angebracht, damit sich ihr Sohn beim Türöffnen leichter tut. Seine Schulbücher hat Michael doppelt, so muss er sie nicht zwischen Schule und Wohnhaus hin und her schleppen.
Kommendes Jahr stehen für den Zehntklässler des M-Zweigs an der St. Georg Mittelschule in Vilshofen die Abschlussprüfungen an. Michael sagt, er möchte technischer Zeichner werden. Auch den Führerschein will er machen. Das geht nur mit einem eigenen Auto mit erhöhten Pedalen sowie Pedale am Beifahrersitz für den Fahrlehrer. Michael ist ein Tüftler; wie sein Vater Karl-Heinz, der als Kfz-Meister arbeitet und an Fahrzeugen aller Art interessiert ist. Zurzeit sind die Beiden dabei, ein Moped so umzubauen, dass Michael damit fahren kann. Karl-Heinz Sell sagt, er tue alles dafür, seinem Sohn ein normales und schönes Leben zu ermöglichen.
In drei Jahren, wenn Michael 18 ist, darf er das erste Mal bei einem Feuerwehreinsatz mitmachen. Er will alle Prüfungen absolvieren und hat hohe Ziele: Michael sagt, er könne sich vorstellen, später einmal Kommandant zu werden.